Kyösti Julku
Die verschiedenen Hypothesen über den Ursprung der finnougrischen Völker
Schulen
Spätestens nach den Kongressen und Tagungen in Turku, Lammi und Helsinki im Jahre 1997 ist es klar, daß es zwei Schulen gibt, deren Auffassungen recht stark voneinander abweichen, und es ist kein Einverständnis in Sicht. Ich nenne im folgenden die ältere Schule die traditionelle Schule und die jüngere die internationale Schule.
Traditionalisten am Wolga-Knie
Der erste Konsensus
Anfang des Jahrhunderts etablierte sich die Auffassung, daß wir ursprünglich am Wolga-Knie beheimatet sind. Es gab für diese Auffassung zwei Grundpfeiler: Erstens dachte man ohne weiteres, daß die Urheimat der Finno-Ugrier sich dort befinden mußte, wo zu jener Zeit die meisten finno-ugrischen Völker wohnten. Diese Auffassung wurde dadurch verstärkt, daß es für Finnland vor 100 n. Chr. in einem Zeitraum von etwa 500 Jahren keine archäologischen Funde gab (A. Hackman 1905)1. Schlußfolgerung: Die Finnen (umfassender ausgedrückt: Ostseefinnen) waren relativ spät aus dem Osten an die Ostsee gezogen (z. B. E. N. Setälä, K. B. Wiklund)2.
Der zweite Konsensus
Der Artikel „Dåvits", den C. F. Meinander im Jahre 1969 veröffentlichte, bedeutete eine Wende3. In diesem Artikel wies er bis zu einem bestimmten Grad die Kontinuität der Besiedlung über die sogenannte fundlose Periode hinaus nach. Wenn der Stein auf diese Weise ins Rollen gebracht wurde, füllte sich die Lücke später allmählich mit neuen Funden. Und endlich war man so weit, daß im Jahre 1980 das bekannt gewordene interdisziplinäre Symposium in Tvärminne veranstaltet wurde, auf dem sich niemand mehr als Anhänger der Migrationstheorie zu Wort meldete. Ein volles Einverständnis darüber, wann die Finnen in ihr Land gezogen wären, konnte nicht erreicht werden4. Allmählich setzte sich jedoch die Auffassung durch, daß die typische Kammkeramik die Phase gewesen war, in der die Finnen (Ostseefinnen) in ihre Wohngebiete gezogen waren. Dazu trug vor allem die Tatsache bei, daß Meinander in Tvärminne vorsichtig für diese Auffassung plädierte5. Unterstützt wurde er darin vor allem durch die estnischen Archäologen Jaanits und Moora, die bereits in den 50er Jahren zu diesem Ergebnis gekommen waren6.
Zentral bei diesem neuen Konsensus war jedoch die Tatsache, daß die Urheimat der Finno-Ugrier immer noch am Wolga-Knie, an der Kama oder im mittleren Ural angenommen wurde und immer noch angenommen wird. Die genaue Zuordnung der Urheimat änderte sich jedoch, sogar bei ein und demselben Forscher (z. B. P. Hajdu)7, recht häufig. Warum keine genaue Plazierung erreicht werden konnte, dürfte aus dem folgenden Sachverhalt hervorgehen.
Ketzerische Meinungen
Es wurden die ganze Zeit sowohl in Finnland als auch im Ausland abweichende Auffassungen vorgebracht, aber der herrschende Konsensus war (und ist) so stark, daß über diese Meinungen geschwiegen wurde. Auf den Spuren des Deutschen G. Kossinna8 wandelte der Schwede O. Almgren (1914)9. Sie dachten, daß das ganze nördliche Europa schon in einer frühen Phase (vor der Einwanderung der Indoeuropäer) durch die Finno-Ugrier besiedelt war. Der Finne J. Ailio seinerseits hielt schon die Bevölkerung der Steinzeit für finno-ugrisch und plazierte ihre Heimat auf die Waldaihöhen10. In die gleiche Richtung dachte. A. Äyräpää (1958) und ging ebenfalls davon aus, daß die Wurzeln der Finnen im Süden lagen11. Schon 10 Jahre früher hatte sich K. Vilkuna darüber gewundert, daß im Beweismaterial das östliche Belegmaterial nicht deutlich genug zu sehen war12. Später als Kossinna und Almgren vertraten der Deutsche J.Pokorny (1936)13 und der Schwede E. Rhedin (1942)14 ähnliche Auffassungen, aber auch sie wurden mundtot gemacht.
Neue internationale Meinungen
Schon im Jahre 1970 formulierte T. Sulimirski den Grundsatz, der eine besonders zentrale Stellung bei der Erforschung der Grundphasen nach dem Höhepunkt der Eiszeit hat. Als das Eis abzutauen begann, wurde der Boden allmählich frei gelegt und darauf erschien Vegetation. Sulimirski behauptete folgendes: Mit der Vegetation wanderte das Wild sehr langsam von Süden nach Norden und mit dem Wild ebenso langsam der Mensch. Die Hauptrichtung der Bevölkerungsbewegung verlief also von Süden nach Norden, abgesehen von einigen örtlichen Variationen15.
Auf ähnliche Weise dachten später P. Dolukhanov16, J. Makkay17 und G. Laszlo18. In Finnland war M. Nuñez19 der Vorreiter dieses Gedankens. So entstand allmählich die Hypothese, daß die Entstehung der Finno-Ugrier auf der Grundlage einer Hauptbewegung von Süden nach Norden zu erklären wäre. Dies paßt außerdem gut damit zusammen, was Ailio und A. Äyräpää dachten.
Welche Hypothese ist wahrscheinlicher?
Bei allen Migrationsbewegungen - seien sie Phänomene der historischen oder prähistorischen Zeit -müssen sogenannte push- und pull-Faktoren unterschieden werden. Dies muß auch für die Finno-Ugrier gelten dürfen.
Wenn wir an eine mögliche Bevölkerungsbewegung von der Wolga oder aus einer benachbarten Gegend denken, so müßte ein Expansionszentrum existieren. Man hat es aber nicht gefunden, welches schon dadurch nachgewiesen wird, daß eine sehr große Unstimmigkeit darüber herrscht, wohin die Urheimat zu plazieren wäre. Darüber hinaus müßte ein pull-Faktor gefunden werden. Dies ist auch nicht nachgewiesen worden. Es ist leicht zu verstehen und zu akzeptieren, daß die Küstenbewohner des (heutigen) Polens zum Robbenfang zu den Ålandinseln kamen. Man kann es aber nicht ohne weiteres akzeptieren, daß der Robbenfang die Bewohner am Wolga-Knie oder die Bewohner den Binnenlandes östlich der Wolga in dem Maße fasziniert hätte, daß sie in der Hoffnung. Robben zu erbeuten, an die See gewandert wären.
Wenn man aber dagegen an eine Bewegung von Süden nach Norden denkt, so waren sowohl push- als auch pull-Faktoren vorhanden20. Unter den push-Faktoren ist als erster der Schwund des Großwildes zu nennen - z. B. die Ausrottung des Mammuts. Ein pull-Faktor war gerade die Abwanderung des Großwildes - vor allem wahrscheinlich des Wildrens immer weiter nach dem Norden, als das Klima wärmer wurde. Zur Eiszeit verlief die südliche Verbreitungsgrenze des Wildrens auf der Höhe der Pyrenäen und der Stadt Nizza.
Natürlich gab es außerdem weitere push- und pull-Kräfte, aber es ist nicht möglich, sie in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Es reicht die Feststellung, daß die Bevölkerungsbewegung von Süden nach Norden erklärt werden kann, die Bevölkerungsbewegung von Osten nach Westen dagegen nicht. Eine ganz andere Sache ist die Aufrechterhaltung der Kontakte und des Verkehrs entlang den Wasserwegen des nördlichen Europas und der Tundra. Aus dem Gesagten folgt, daß die Bevölkerungsbewegung von Süden nach Norden als eine wahrscheinlichere Hypothese anzusehen ist als die Bevölkerungsbewegung von Osten nach Westen.
Weitere Beweise?
Oben war vor allem von archäologischen Beweisen die Rede, und es erhebt sich natürlich die Frage, ob andere Forschungszweige Beweise für die eine oder andere Hypothese bringen können. Natürlich können sie dies, und es kommen vor allem die Genetik, die physische Anthropologie und die Sprachwissenschaft in Frage.
Genetik
Schon der Papst der heutigen Genetik, Cavalli-Sforza, konnte beweisen, daß nächsten genetischen Verwandten der Finnen (Ostseefinnen) die Deutschen, Österreicher, Skandinaven und überraschenderweise die Belgier sind21. Die Ungarn sind in dieser Hinsicht dagegen etwas weiter entfernt. All dies paßt gut damit zusammen, was wir aus anderen Quellen - vor allem aus den archäologischen - wissen.
In der Zeit nach Cavalli-Sforza ist eine neue Forschungsmethode entwickelt worden, und zwar die Erforschung der mitochondrialen DNA, die sich besser für Bewertungen eignet, die sich auf längere Zeiträume beziehen. Obwohl grundsätzlich davon ausgegangen werden muß, daß die Genetiker - wie ein Freund von mir, der Este A. Künnnap, festgestellt hat - im Durchschnitt zweimal im Jahr eine neue Methode entdecken, und die Ergebnisse deswegen lange Zeit hypothetischen Chararakter haben dürften, so scheint die Grundrichtung eindeutig zu sein.
Ich nenne in dem folgenden nur die beiden neuesten Untersuchungen. Einerseits sind die Ergebnisse der Arbeitsgruppe Torroni et al. zu nennen, nach denen ein Erbfaktor, der nur mütterlicherseits vererbt wird, auf sehr alte westliche Verbindungen (bis hin zu den Basken) hinzuweisen scheint22. Andererseits ist man durch die Erforschung des sogenannten y-Faktors, der nur väterlicherseits vererbt wird, dazu gekommen, den „asiatischen" Faktor zu betonen23. Allerdings ist der Terminus „asiatisch" nicht näher definiert worden. Auf keinen Fall handelt es sich um Verbindungen mit den Mongolen. Vielmehr erachte ich in diesem Zusammenhang als richtig, daß vor allem die Möglichkeit, die gerade durch den Kaukasus eröffnet wird, einer näheren Analyse unterzogen werden müßte. Im ganzen sieht es so aus, daß die moderne Genetik vor allem die ostseefinnischen, westlichen Verbindungen hervorhebt.
Physische Anthropologie
Nach der traditionellen Auffassung zeigen die ältesten Knochenfünde in den Gebieten der Ostseefinnen einerseits europide Züge und andererseits zunächst wohl sibirische Züge. In der neueren Forschung ist der letztgenannte Gesichtspunkt u.a. mit der Begründung zurückgewiesen worden, daß die Funde in der Gegend des Onegasees zum Teil falsch rekonstruiert worden sind. Eine ganz deutliche Auffassung der modernen Anthropologie (M. Niskanen) ist es24, daß die Ostseefinnen derzeit am reinsten den europäischen sogenannten Cro-Magnon-Menschen repräsentieren und demzufolge so europid sind wie es ein Volk nur sein kann. Dies erklärt sich dadurch, daß aus dem Süden, genauer gesagt aus dem Südosten immer neue Bevölkerungsgruppen nach Europa gekommen sind, woraus sich ergeben hat, daß im südlichen und mittleren Europa eine starke Mischung stattgefunden hat, während in den Randgebieten die Bevölkerung weniger gemischt ist.
Sprachwissenschaft
Die finnische Sprachwissenschaft hat sich vor allem auf die entlehnungen in den finno-ugrischen Sprachen konzentriert. In dieser Forschung ist ein sehr hohes Niveau erreicht worden. Man hat jedoch - nachdem das Forschungsgebiet das Stadium einer "Reinkultur" erreicht hatte - die entgegengesetzte Möglichkeit vergessen, das heißt, den Einfluß des Finnischen oder der finno-ugrischen Sprachen auf andere Sprachen - vor allem auf die indoeuropäischen Sprachen. In Finnland hat die Hypothese von K. Wiik aufsehen erregt, wonach die finno-ugrischen Sprachen ein phonetisches Substrat in einigen indoeuropäischen Sprachen (im russischen sowie in den baltischen und germanischen Sprachen) hinterlassen hätten25. Die finnische Kritik hat die Hypothese von Wiik recht entschieden zurückgewiesen, aber die Diskussion ist keineswegs beendet.
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, auch auf die stark vernachlässigte Ortsnamenforschung hinzuweisen. Sowohl in Schweden und Norwegen als auch im Baltikum ist eine finnische Schicht nachgewiesen worden, die sehr alt sein muß. Insbesondere im Hinblick auf Schweden und Norwegen wird die Forschung durch die späte finnische Immigration erschwert, die auch Apuren hinterlassen hat. Eine alte finno-ugrische Schicht scheint aber auch vorhanden zu sein. Diese Frage ist noch nicht abgeschlossen - eigentlich hat eine Forschung auf breiter Basis nicht einmal angefangen.
Zum Schluß
Auf der Grundlage all des oben Gesagten neige ich dazu, für die letztere von den beiden Grundhypothesen zu plädieren, das heißt dafür daß die Wurzeln der Finnen ausdrücklich in südlicher Richtung zu suchen sind, und nicht im Osten.
Wie dem auch dei, diese Hypothese ist die zweite, die über die Herkunft der Finno-Ugrier gestellt worden ist. Vielleicht wacht man allmählich von dem dogmatischen Schlaf auf, in dem die finnische Forschung über hundert Jahre geschlummert hat. Während über die Herkunft der Indoeuropäer bisher etwa 300 bis 400 Hypothesen vorgebracht worden sind, und die Suche nach neuen Hypothesen als selbstverständlich angesehen wird, so will man sich in Finnland prinzipiell einer zweiten Hypothese widersetzen. In dieser Hinsicht ist das Forschungsklima moderig.